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NO BORDERS – ÜBERLEBENSGESCHICHTEN: EIN OPFER DES DAESH

Von No Borders Team

Wir übersetzen und teilen die Geschichte eines Daeshg-Opfers, das zweimal von polnischen Grenzschützern nach Weißrussland abgeschoben wurde.


DIE GESCHICHTE EINES DAESH-OPFER, DEM DER POLNISCHE STAAT NICHT GEHOLFEN HAT UND DAS STATTDESSENS ZWEIMAL NACH BELARUS ABGESCHOBEN WURDE.

“Als ISIS 2014 nach Sindschar kam, kamen sie auch in unser Dorf und wollten uns gefangen nehmen. Einige Leute haben gekämpft.

“Wir hatten ein kleines Auto, mit dem meine Familie in die Berge fuhr. Ich blieb bei meinem Bruder, weil wir nicht genug Platz hatten. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg in die Berge, aber wir schafften es nicht bis dorthin, ISIS nahm uns gefangen, sie wollten uns alle töten.

Sie haben unsere Häuser bombardiert. Wir sind geflohen. Aber ISIS hat mich wieder gefangen genommen. Ich war 10 Tage lang in Gefangenschaft. Schließlich gelang mir die Flucht in die Berge. Dort lebten wir vier Jahre lang in Zelten, und da die Regierung uns ohnehin nicht helfen wollte, beschlossen wir, in unsere Heimat zurückzukehren.

Ich ging mit meinem Vater und meinen Brüdern. Als ich als erstes die Tür öffnete, explodierte eine Bombe, die die ISIS dort hinterlassen hatte, in unserem Haus. Ich überlebte und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Meine Familie kehrte in die Berge zurück, denn es gab keine Möglichkeit, in unserem Dorf zu leben.

Da die Bombe mein Bein schwer verletzte, beschloss meine Familie, mich nach Europa zu schicken, um dort geheilt zu werden und zu leben. Sie verkauften dieses Stück Land und ein kleines Auto. Ich versuchte, auf legalem Weg nach Europa zu gelangen, um ein Visum zu bekommen, aber das war nicht möglich, also beschloss ich, diesen Weg zu Fuß zu gehen.

Es war mir egal, ob ich auf dieser Reise sterben würde, denn ich hätte genauso gut im Irak sterben können.

Meine Reise begann folgendermaßen… Ich flog vom Irak nach Syrien und dann von Syrien nach Weißrussland. Die weißrussische Polizei erwischte uns in Minsk, brachte uns zur Grenze und sagte, wir müssten nach Polen gehen. Ich wollte nicht gehen, aber die Polizisten zogen ihre Waffen und sagten, sie würden uns töten, wenn wir uns nicht bewegten, also mussten wir über die Grenze.

Wir versuchten zwei Mal, nach Polen zu gelangen, aber die Soldaten drängten uns zurück zur Grenze. Beim dritten Mal erwischte uns die Polizei bereits in der Nähe der deutschen Grenze und brachte uns in ein geschlossenes Lager, wo ich 35 Tage lang blieb. Die Bedingungen dort sind ganz anders, aber schwierig. Ich denke, ich habe es nicht verdient, an einem solchen Ort festgehalten zu werden. Dann brachten sie mich wegen meines Gesundheitszustands in ein offenes Lager.

Im Irak begann ich aufgrund unserer Situation unter Depressionen zu leiden. Also nahm ich den Kampf für ein besseres Leben auf. Ich wurde jedoch gefasst und in ein geschlossenes Lager

gebracht. Es gibt viele Orte im Irak, die recht sicher erscheinen, wie z. B. Kurdistan, aber an unserem Ort – Sindschar – gibt es kein Leben. Jeden Tag werden Menschen im Sindschar umgebracht, es ist extrem gefährlich dort. Ich wünschte, jemand könnte ihnen helfen, denn diese Menschen wollen nur in Frieden leben und ihrer Religion folgen.

Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich keine Tränen mehr habe, um zu weinen. Viele meiner Nachbarn, Familienmitglieder, Freunde und Kinder sind gestorben. Und wir haben das alles schon gesehen…

Das war nicht das erste Mal, dass ISIS uns das angetan hat. Es ist das 74. Mal, dass sie uns das angetan haben, weil wir einer anderen Religion angehören.

(Anm. d. Red.: Bei dieser Zahl handelt es sich nicht um eine genaue Zählung der Angriffe auf Yeziden. In der jesidischen Mythologie bedeutet die Zahl 72 das Ganze, alles. Der von den Yeziden verwendete Begriff “72 Ferman” bedeutet die Gesamtheit der Verfolgung, 72 Völkermorde. Zur Zahl 72 werden oft noch weitere hinzugezählt; der Sinjar-Völkermord von 2014 wird als der 74. “gezählt”)

Aber wir wollen nichts: kein Öl, kein neues Land…

Wir wollen nur leben, und sie nehmen uns unsere Menschlichkeit und erlauben uns nicht zu existieren. Jetzt möchte ich nur, dass sie unsere Existenz akzeptieren, damit ich unter meinem Volk leben kann.”


Sinjar (Shengal/Sinjar/Şengal) ist eine Region im Nordwesten des Irak, die sogenannte irakische Heimat der Yeziden.

Am 3. August 2014 verübte ISIS/Daesh einen Völkermord an den Yeziden im Sindschar. Zehntausende wurden getötet, weitere Zehntausende wurden zu Binnenmigranten, Tausende wurden gefangen genommen, Frauen auch in die sexuelle Sklaverei, viele Kinder wurden entführt (vor allem Jungen, um in ISIS-Lagern militärisch ausgebildet zu werden).

Seitdem wird Sinjar, trotz der schrittweisen Rückeroberung der Region aus den Händen von Daesh durch jesidische und kurdische Selbstverteidigungskräfte (HPG und YJA-STAR, YPG und YPJ- Einheiten), immer wieder von der Türkei angegriffen (auch schon 2022). Der türkische Staat gibt als Vorwand den Kampf gegen den Terrorismus an, für den er die Existenz der Sinjar- Selbstverteidigungseinheiten heranzieht. In Wirklichkeit ist dies die Verwirklichung der imperialistischen Neigungen der Türkei – der Wunsch, den Sindschar unter Kontrolle zu haben. Diese Aktionen unterstützen auch aktiv den ISIS und seine schlafenden oder isolierten Zellen in der Region. Und das alles, ohne dass die NATO darauf reagiert.

Eine Reihe von Bombenangriffen, die Ermordung von Mitgliedern der Sinjar- Selbstverteidigungskräfte, Drohnenangriffe, die Ermordung von Menschen, die die Ideen des demokratischen Konföderalismus verkörpern, die Zerstörung von Häusern oder Krankenhäusern… Dies sind die Realitäten in der Sinjar-Region. Das macht es den Bewohnern unmöglich, in ihre Heimat zurückzukehren. Von den Bergen und den dortigen Flüchtlingslagern aus machen sich auch die Jesiden auf den Weg nach Europa.